Eine Prozession von ergreifender Atmosphäre

"Herr du hast gesagt: ‚Wer mein Jünger sein will, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach‘“, spricht Andreas Kliemank am Abend des Karfreitags in der Pfarrkirche Wittichenau. „Ich will jetzt Deinen Spuren nachgehen und Dir im Geist auf Deinem Leidensweg folgen.“ Dann stimmt der Vorbeter ein erstes Lied an und tritt in die Dämmerung hinaus. Ihm folgen Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer, Menschen aller Generationen. Hunderte warten auf dem Marktplatz, um sich der Kreuzverehrungsprozession anzuschließen. Mehr als 1500 ziehen schließlich singend und betend durch die Straßen der Kleinstadt. An keiner anderen Veranstaltung der Pfarrgemeinde beteiligen sich mehr Gläubige.

„Es ist Karfreitag, der Tag des Kreuzwegs Jesu. Vielleicht sagen sich da viele: den besuche ich, den bete ich mit“, erklärt sich Andreas Kliemank die hohe Beteiligung an der Prozession. Die Christen gehen von Kreuz zu Kreuz, halten inne, nehmen eins ums andere in den Blick. In den Stationen werden sie daran erinnert, dass Menschen einander auch heute noch „aufs Kreuz legen“. In Vorgärten, vor Hausfassaden, in Fensternischen sind die Zeichen der Kreuzigung Jesu von Lampen in Szene gesetzt. „Wir beten dich an Herr Jesus Christus und preisen dich“, ruft Andreas Kliemank. „Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“, antwortet die Gemeinde.

Strapaze für die Stimme des Vorbeters

Seit 1992 gestaltet Kliemank diese Laienprozession. Über viele Jahre hat er den Kreuzweg mit einem anderen Gemeindemitglied vorgebetet. Mittlerweile spricht er die Texte allein. In den ersten Jahren sei das ganz schön auf die Stimme gegangen, berichtet Kliemank. Ohne Mikrofon haben die Vorbeter die Texte schreien müssen. Inzwischen werden im Zug zwei Lautsprecher mitgetragen.

Wenn Andreas Kliemank in der Mitte der Prozession vor einem Kreuz Halt macht, um die nächste Station vorzubeten, wird am Ende des Zuges oft noch eine Liedstrophe fertig gesungen. In diesen Momenten wird Kliemank bewusst, wieviele Menschen an diesem Abend mit ihm unterwegs sind. „Es ist ergreifend mit so vielen Leuten zu beten“, sagt er. Die Station auf dem Friedhof geht ihm besonders unter die Haut: „Die Lichter an den Gräbern und wie sich die vielen Leute zum Gebet verteilen, das ist toll anzusehen.“

Eine Fortsetzung der liturgischen Kreuzverehrung

1936 wird die Kreuzverehrungsprozession erstmals in der Chronik der Wittichenauer Pfarrgemeinde erwähnt. Damals habe die Prozession noch am Gründonnerstag stattgefunden, berichtet Pfarrer Johannes Magiera, der in Wittichenau das Pfarrarchiv verwaltet. Erst seit 1956 ziehen die Wittichenauer am Karfreitag zur Kreuzverehrung durch ihre Stadt. Das hing mit einer Reform der Karwochenliturgie zusammen. „Man orientierte sich wieder mehr an den biblischen Zeiten der Leidensgeschichte Jesu“, erklärt Magiera. Fortan fand also die Feier des letzten Abendmahls am Gründonnerstagabend statt, die Karfreitagsliturgie zur Sterbestunde Jesu. Zuvor waren beide Gottesdienste vormittags gefeiert worden. „Woanders waren diese Änderungen kein Problem“, sagt Pfarrer Magiera. „In Wittichenau waren sie mit althergebrachten Traditionen in Einklang zu bringen.“ Die Kreuzverehrungsprozession passte nach dieser Neuordnung aber gut auf den Karfreitag. „In ihr kann die offizielle liturgische Kreuzverehrung ihre Fortsetzung in der privaten Volksandacht finden“, heißt es dazu in der Pfarrchronik.

Christliche Gemeinschaft erleben

Nach mehr als zwei Stunden erreicht der Prozessionszug wieder die Pfarrkirche. Unterm Gewölbe der Orgelempore drängen sich die Teilnehmer dicht an dicht. Wo seit dem Nachmittag das Grab Jesu nachgebildet steht, beten sie zum Abschluss die Litanei vom Leiden und Sterben Jesu. Auch Frank Ballandt aus Rosenthal ist dabei. „Die Erinnerung an das Leiden und den Tod Jesu, das gehört zur Liturgie der Karwoche einfach dazu“, erklärt Ballandt, warum er seit Jahren zu dieser Prozession in seinen Heimatort kommt. Ballandt gefällt die starke christliche Gemeinschaft, die bei der Prozession erlebbar wird. Im Alltag, in Schule und Beruf sei das heute nicht mehr so erfahrbar, bedauert er. Dass Haus- und Wegkreuze in Wittichenau in diesen Tagen beleuchtet sind und zur Prozession in den Blick rücken, gefällt ihm sehr gut. Von der Atmosphäre der Prozession wird er zehren: „Das bringt Stärkung für den Alltag.“

Dieser Text entstand zur Kreuzverehrungsprozession 2017. Autor: Martin Kliemank

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