Mein Pilgerweg von Wittichenau nach Vilnius

von Dr. Peter Bresan

Polen, unser Nachbarland, hat die meisten Fußpilger Europas. Alle Pilgerwege führen zu Gnadenorten der Muttergottes. Der bekannteste ist Tschenstochau - zum Gnadenbild der Schwarzen Madonna auf dem Weißen Berg. Dort ist seit über 600 Jahren die Quelle des religiösen Lebens des polnischen Volkes, seiner Kraft und Freiheit. Auf Initiative von Kardinal Stefan Wyszynski und Pater Stani Nawka pilgern seit 1973 auch Sorben von Warschawa nach Tschenstochau. Schon siebenmal bin auch ich diesen Pilgerweg gegangen und im Mai 2007 von Sollschwitz über Rosenthal nach Tschenstochau.

Der bekannteste Pilgerort in Litauen ist Vilnius, wo die Mutter des mildtätigen Herzens am Stadttor der Ostrobrama verehrt wird. Mit dem Zerfall der Sowjetunion eröffnete sich für die Polen das Pilgern nach Vilnius wiederzubeleben. Davon erfuhr ich von beeindruckten polnischen Pilgern, die diesen Weg gegangen sind. In den Jahren 2002 und 2005 begab auch ich mich auf diesen Pilgerweg von Suwalki nach Vilnius, gemeinsam mit jeweils 1700 Pilgern.

Die geistliche und organisatorische Leitung liegt in den Händen des Salesianerordens. Die geistigen und körperlichen Anforderungen waren jeweils sehr hoch, sie sind jedoch mit reichen Gnaden belohnt worden.
Aus diesem Grund erwachte in mir der Wunsch, von meiner Heimatpfarrei nach Vilnius zu laufen und der Muttergottes den Monat Mai zu schenken als Dank für erhaltene vielfältige geistige Gnaden.

Mehr als 1.000 Kilometer

Als ich diese meine Absicht meinem Freund Tadeusz Tykocki aus Lomza, der mich im vorigen Jahr von Rosenthal nach Tschenstochau begleitet hat, mitteilte, sagte er spontan: „Ich gehe mit Dir.“ Am 28. April konnte ich ihn auf dem Bahnhof in Bautzen begrüßen. Nach Beendigung der Vorbereitungen begaben wir uns am 1. Mai, dem Fest Christi Himmelfahrt, von Sollschwitz zum Frühgottesdienst nach Wittichenau. Nach dem Gottesdienst segnete uns Pfarrer M?r?in Dele?k aus.

Die Wegstrecke führte uns über Bad Muskau, weiter durch ganz Polen und von der Litauischen Grenze bis zur Hauptstadt Vilnius. Wir wollten gesund am Ziel ankommen. Dazu baten wir den Herrgott, dass er uns den täglichen Besuch einer Hl. Messe ermöglicht, sowie ein Bett zum Schlafen.
Alle diese Wünsche wurden uns erfüllt. Selbst das Geschenk des guten Wetters war uns ein Zeichen, dass uns auf dem ganzen Weg Gottes Liebe begleitete. Erträglich war die Sonne, die uns jeden Tag begleitete. Geregnet hat es nur nachts und am Morgen wurde uns der herrliche Duft der blühenden Rapsfelder und Bäume geschenkt. Als wir in Vilnius ankamen, zogen dichte Wolken auf und zwei Tage regnete es kräftig. Dies werteten wir als Segen des Himmels.

Aller Anfang ist schwer

Die erste Etappe über 61 Km war die schwerste. Vor Bärwalde fiel ich wie vom Blitz getroffen mit dem Gesicht auf die Asphaltkante der Straße. Die rechte Gesichtshälfte und die Handfläche der rechten Hand bluteten. Der Daumen und das Kniegelenk waren verstaucht. Tadeusz dachte, dass jetzt alles frühzeitig beendet ist. Ich sagte ihm jedoch, dass Gott diesen Fall zugelassen hat, nichts ist gebrochen und die Wunden werden in 10 Tagen zugeheilt sein. So war es auch. In Zary (Sorau) fragte ich eine Frau nach dem Weg nach Szprotawa (Sprottau). Sie zeigte mir die Richtung und sie fragte uns nach unserem Ziel. Ich sagte ihr: „Wir sind auf dem Pilgerweg nach Vilnius.“ Daraufhin erwiderte sie: „Dass das doch unmöglich ist. Habt ihr denn kein Auto?“ „Hier habe ich nur meine Beine“ antwortete ich ihr.

Die zweite körperliche Schwäche erlebte ich am 4. Mai auf unser 50 km langen Strecke von Szprotawa nach Glogowa. Am späten Nachmittag überfiel mich eine totale Schwäche. Ratlos setzte ich mich auf eine niedrige Mauer am Bahnhof. Dabei entsann ich mich auf die fünfte Station des Kreuzweges. Simon von Syrene hilft Jesus das Kreuz zu tragen. Nach dem Gebet dieser Station reichte mir Tadeusz ein Kaffeebonbon und ich nahm mir eine Schmerztablette. Nach einer Weile verließ mich jeder Schmerz und die Schwäche wandelte sich in eine frühmorgendliche Kraft um.

Die dritte körperliche Belastung erlebte ich am 10. Tag. Hinter der Stadt Kutno weist ein großes Schild auf den Mittelpunkt Europas hin. Nach fotografischen Aufnahmen ging ich über eine dicht bewachsene Verkehrsinsel und trat in ein unsichtbares Loch. Ich fiel und verspürte einen starken Schmerz im linken Bein, untersuchte es und stellte fest, dass nichts gebrochen ist. So schöpfte ich Kraft und Hoffnung aus der Erfahrung: Jeder Schmerz der kommt, geht auch wieder. So geschah es auch hier. Von diesem Tag an hat der Körper den Tagesrhythmus angenommen. Täglich waren wir 15 Stunden auf den Beinen. Die Pausen waren nur kurz - sitzend wurde gegessen und getrunken. Als Hauptnahrungsmittel diente uns Brot, Honig, Marmelade, Joghurt, Quark und Suppen. Den Getränken wurden Calcium und Magnesium zugefügt.

So wie der Körper seinen Rhythmus gefunden hat, so war es auch im Gebetsleben. Täglich hatte ich den Rosenkranz in der Hand (ein Erbstück meiner Mutter) und so fand ich zum immerwährenden Gebet. Darin wurden alle Anliegen und aller Dank eingeschlossen.

Lichen - unser erster Ruhetag
Hier erbaute der Marianische Priesterorden innerhalb von 10 Jahren die größte Basilika Polens. 2 Millionen Pilger aus aller Welt kommen jährlich hierher und verehren die Lichener Muttergottes. In Lichen erlebt der Besucher die Fülle des christlichen Glaubens des polnischen Volkes und seiner Kirche bis zur Gegenwart. Es lohnt sich diesen Ort zu besuchen und dort nach Möglichkeit zwei Tage zu verweilen.

Lomza

Es ist die Heimatstadt von Tadeusz Tykocki. In der Stadt herrscht ein reges christliches Leben, so wie wir es entlang auf unserem ganzen Pilgerweg durch Polen erlebt haben. Hier hatten wir Gelegenheit das Priesterseminar zu besuchen, Gespräche mit dem Bischof und Professoren zu führen. Die Stadt und Umgebung wurde im 1. und 2. Weltkrieg stark zerstört, aber immer wieder aufgebaut. Während der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg wurden im Kreis Lomza an 40 Stätten 57 Massenexekutionen durchgeführt, bei denen fast 15 Tausend Personen, unter ihnen Kinder und Greise, erschossen wurden. Aus dem Blut der Märtyrer erwächst neues christliches Leben. In der Heimatpfarrei von T. Tykocki wird der selig gesprochene Priester Adam Bargielski verehrt, der zur gleichen Zeit mit unserem sorbischen Märtyrer Alois Andricki im Konzentrationslager Dachau war. Von Lomza aus hatten wir noch 320 km bis nach Vilnius.

Als wir Vilnius mit dem Zug nach Polen verließen, merkte ich zum ersten Mal ein Bedürfnis zum Sitzen und zur Verarbeitung meiner Erlebnisse. Die wichtigste Erkenntnis besteht darin, dass die Christen im Osten mehr beten und die heiligen Messen besuchen als im Westen. Es ist dies die Quelle für einen reicheren Priester- und Ordensnachwuchs. Folgen wir diesem Beispiel! Meine Fußpilgerwanderung beendete ich am 27. Mai mit einem Dankgottesdienst in Rosenthal.